Narzissmus – nicht mehr als ein Medienhype?

Meine Antwort auf den Zeit-Artikel „Was haben Putin, Trump und der toxische Ex-Freund gemeinsam?“

 

Zurzeit wird immer wieder Kritik an der Auseinandersetzung mit dem Thema Narzissmus geübt. Jüngst zum Beispiel im oben erwähnten Beitrag. Die Abhandlung von Quentin Lichtblau warnt vor einer Generalisierung, tappt aber in die gleiche Falle: Ein Phänomen, das zur Lebenswirklichkeit einer breiten Zahl Betroffener gehört, wird darin fast vollständig in Abrede gestellt. Ich plädiere für einen besonnenen Mittelweg:

Ja. Es gibt einen medialen Hype um das Thema Narzissmus. Und: Ja! Es gibt Menschen, die sich ohne professionellen Hintergrund dazu zu Wort melden. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen und Sachlichkeit anzumahnen. Aber: Warum gleich das Kind mit dem Bade ausschütten?

Emotional missbräuchliche Beziehungen sind ein reales, und sehr verbreitetes Problem. Und trotz der augenblicklichen Beliebtheit englischer Schlagworte wie „Gaslighting“ und der Dämonisierung von Menschen mit narzisstischen Zügen, sind die Merkmale solcher toxischen Verbindungen noch lange nicht bei allen angekommen: Es ist trauriger Alltag, dass Menschen Jahre und Jahrzehnte in krankmachenden Verbindungen verharren, und dass auch im therapeutischen Kontext oftmals nicht erkannt wird, womit sie es zu tun haben. Sätze wie „Es braucht immer zwei dazu!“ stimmen für normale Paardynamiken, nicht aber für Missbrauchsbeziehungen.

Profis aus Pädagogik, Psychologie, Justiz und Gesundheitswesen haben tagtäglich mit Fällen von Narzissmus bzw. mit toxischem Verhalten zu tun, und suchen Rat für den Umgang mit solchen antagonistischen Individuen, die ihnen in Scheidungsprozessen oder Elterngesprächen begegnen. Und tatsächlich ist die Wissenschaftsgemeinde noch alles andere als einig und spruchreif, was dieses Feld anbelangt. So heben Aaron L. Pincus[1] und sein Team hervor, dass es einer klareren Definition bedarf, um Narzissmus zuverlässig zu diagnostizieren, und um eindeutigere empirische Ergebnisse zu erzielen. Momentan würden in den Studien beispielsweise gesunder und pathologischer Narzissmus nicht trennscharf unterschieden. Und die Diagnoseschlüssel erfassten hauptsächlich den grandiosen, nicht aber den vulnerablen Typ. Hinzu kämen die, weniger bekannten, verdeckten Modi dieser beiden Narzissmus-Facetten – sie seien weniger leicht zu identifizieren als die offenen Ausdrucksformen. Statt die Diagnose zu streichen, wäre also, im Gegenteil, größere Genauigkeit wünschenswert.

Dies gilt ebenfalls für die öffentliche Debatte – gerade um den zurecht von Ihnen angesprochenen Missverständnissen und Vorverurteilungen auf diesem sensiblen Themenfeld vorzubeugen. Weder das Klischee vom bösen Narzissten noch eine Leugnung des Problems sind dabei hilfreich. Vielmehr braucht es fundierte und differenzierte Aufklärung.

 

 

 

 

 

 

[1] z.B.: Pathological Narcissism and Narcissistic Personality Disorder – Aaron L. Pincus and Mark R. Lukowitsky